Wie läuft das
Wirecard - KapMuG - Verfahren genau ab?

Grundsätzlich stehen sich in einem deutschen Zivilprozess zwei Parteien gegenüber.
Hiervon macht das KapMuG eine Ausnahme. Es ermöglicht in besonderen Fällen eine „Bündelung“ von Parallelverfahren und deren einheitliche Entscheidung im Musterverfahren. Das KapMuG datiert von 2005 und wurde sodann teilweise überarbeitet. Die Neufassung (KapMuG 2012) trat am 1.11.2012 in Kraft.

Das KapMuG ist in Schadensersatzprozessen wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen anwendbar. Auch wenn solche Informationen verwendet werden oder eine gebotene Aufklärung hierüber unterlassen wird, kann ein Verfahren nach dem KapMuG eingeleitet werden. 

Das Verfahren wird auf Antrag des Klägers oder Beklagten eingeleitet. Der Antragsteller muss darlegen, dass der Entscheidung im Musterverfahren Bedeutung über den einzelnen Rechtsstreit hinaus für andere gleichgelagerte Rechtsstreitigkeiten zukommen kann. 

Die Musterverfahrensanträge macht das Prozessgericht üblicherweise im Klageregister des elektronischen Bundesanzeigers bekannt. Wenn innerhalb von 6 Monaten ab Bekanntgabe mindestens zehn gleichgerichtete Anträge vorliegen (dies ist in Sachen Wirecard der Fall), erlässt das erstbefasste Ausgangsgericht, im Falle von Wirecard also das Landgericht München I einen sog. Vorlagebeschluss (§ 6 KapMuG). Im Fall von Wirecard datiert dieser Beschluss vom 14.03.2022.

Dieser Vorlagebeschluss fasst die gemeinsamen Fragen, die alle Verfahren betreffen (sog. Feststellungsziele), zusammen und enthält eine knappe Darstellung des zugrundeliegenden gleichen Lebenssachverhalts. Der Beschluss wird dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt. Alle anhängigen Klageverfahren, deren Entscheidung von den geltend gemachten Feststellungszielen abhängen, werden sodann vom Ausgangsgericht ausgesetzt (§§ 7, 8 KapMuG).

Das Bayerische Oberste Landesgericht wählt aus den ausgesetzten Klageverfahren nach eigenem Ermessen einen Musterkläger aus (§ 9 Abs. 2 KapMuG), den es neben den Musterbeklagten und dem Aktenzeichen des Verfahrens, im Klageregister des elektronischen Bundesanzeigers öffentlich bekannt macht. Bei der Auswahl sind die Eignung des Klägers, das Musterverfahren unter Berücksichtigung der Interessen der Beigeladenen angemessen zu führen, eine Einigung mehrerer Kläger auf einen Musterkläger und die Höhe des Anspruchs, soweit er von den Feststellungszielen des Musterverfahrens betroffen ist, zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 KapMuG).

Erst ab der Bekanntmachung des Musterklägers im Klageregister des elektronischen Bundesanzeigers (www.bundesanzeiger.de) können Personen, die wegen desselben Anspruchs noch keine Klage erhoben haben, ihren Anspruch schriftlich gegenüber dem Oberlandesgericht anmelden (§ 10 Abs. 2 KapMuG). Der Anmelder muss sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen. Die Anmeldung muss innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab Bekanntmachung erfolgen. Durch die Anmeldung kann die Verjährung der Ansprüche des Anmelders bis zum Abschluss des Musterverfahrens gehemmt werden, ohne dass dieser Klage erheben muss (§ 204 Abs. 1 Nr. 6 a BGB).

Da der Beschluss über die Aussetzung eines Klageverfahrens als Beiladung im Musterverfahren gilt, werden alle Kläger zwingend Beteiligte des Musterverfahrens. Sie sind berechtigt, Angriffs- und Verteidigungsmittel geltend zu machen sowie alle Prozesshandlungen wirksam vorzunehmen, sofern diese nicht im Widerspruch mit dem Prozessverhalten des Musterklägers stehen.

Das Bayerische Oberste Landesgericht entscheidet über die vorgelegten Tatsachen- und Rechtsfragen durch Musterentscheid in einem Zwischenverfahren, das ähnlich abläuft wie ein normales streitiges Zivilverfahren. Gegen den Musterentscheid kann Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof eingelegt werden. Nach Rechtskraft des Musterentscheids gehen die Klageverfahren bei den Ausgangsgerichten weiter.

Die Feststellungen des rechtskräftigen Musterentscheids binden die Prozessgerichte in allen ausgesetzten Verfahren. Die Bindung umfasst die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen und wirkt grundsätzlich für und gegen alle Beteiligte des Musterverfahrens. Gegenüber den Geschädigten, die ihre Ansprüche nur im Musterverfahren angemeldet haben entfaltet die Entscheidung im Musterverfahren hingegen keine rechtliche Bindungswirkung. Diese Geschädigten müssen, wie ober bereits erwähnt, ihren persönlichen Schaden in Folgeprozessen individuell einklagen, sofern es keine besonderen Vergleichsvereinbarungen mit den Beklagten gibt.

Können sich die Parteien im Musterverfahren auch vergleichen?


Bereits im Musterverfahren können der Musterkläger und der Musterbeklagte einen Vergleich für alle Verfahrensbeteiligten schließen. Dazu ist eine Zustimmung aller am Musterverfahren beteiligten Personen nicht erforderlich. Der Vergleich gilt für alle Beteiligten, die nicht innerhalb eines Monats ab Zustellung ihren Austritt aus dem Vergleich erklären. Treten weniger als 30 % der Beteiligten aus dem Vergleich aus und genehmigt das Gericht den Vergleich, so wird er wirksam. Dies gilt aber nur für die Beteiligten des Musterverfahrens, nicht für die bloßen Anmelder. 

Welche Vorteile hat das KapMuG- Verfahren?


1. Verjährungshemmung durch Anmeldung

Geschädigte Anleger, die ihre Ansprüche bisher nicht in einem Klageverfahren gerichtlich geltend gemacht haben, können ihre Ansprüche durch einen Rechtsanwalt im Musterverfahren anmelden lassen. Hierdurch kann die Verjährung der Ansprüche kostengünstig gehemmt werden. Die Anmeldung eines Anspruches begründet jedoch keine Beteiligung am Musterverfahren, s.o.

2. Verringerung des Prozesskostenrisikos auch bei einer Einzelklage

Im Gegensatz zu einem normalen Klageverfahren ist das Prozess-Kostenrisiko einer Klage im Rahmen eines Kapitalanlegermusterverfahrens regelmäßig auf die Kosten nur einer Instanz - hier vor dem Landgericht München I - begrenzt. Ein normales Klageverfahren kann üblicherweise über mehrere Instanzen geführt werden müssen, was mit zusätzlichen Kostenrisiken verbunden, die im Zivilprozess nur bedingt beeinflussbar und damit schwer zu kalkulieren sind.

Selbst wenn die Klägerpartei in der ersten Instanz obsiegt, hat es die Beklagtenpartei in der Hand, ob der Prozess weitergeht oder nicht, denn sie kann entscheiden, ob sie Berufung einlegt oder nicht. Obsiegt dann die Beklagtenpartei in der Berufungsinstanz, hat die Klagepartei die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu tragen auch wenn sie in der ersten Instanz gewonnen hatte. gewinnt die Klagepartei auch die zweite Instanz, besteht weiter ein erhebliches Kostenrisiko. Die Beklagtenpartei hat dann noch die Möglichkeit (vorausgesetzt die rechtlichen Voraussetzungen sind gegeben), in die dritte Instanz zu ziehen und das Urteil durch den Bundesgerichtshof überprüfen zu lassen. Gewinnt die Beklagtenpartei dann schlussendlich in letzter Instanz vor dem BGH, trägt die Klagepartei alle Kosten des Rechtsstreits, die über drei Instanzen zu enormen Beträgen anwachsen können.

Im Gegensatz dazu ist eine Zivilklage bei eröffnetem Musterverfahren im Schnitt mit nur rund 25 % des Kostenrisikos einer üblichen Klage durch drei Instanzen verbunden und zwar, wenn die Klage im Falle eines erfolglosen Verlaufs des Musterverfahrens noch in der ersten Instanz und vor Erlass des Musterentscheids durch das Bayerische Oberste Landesgericht zurückgenommen wird und wenn - wie in Sachen Wirecard nicht mehr anders möglich -  noch keine mündliche Verhandlung im Klageverfahren vor dem Landgericht München I stattgefunden hat.

Grund hierfür ist die Aussetzung des eingeleiteten Klageverfahrens noch vor der ersten mündlichen Verhandlung, denn das für das Klageverfahren zuständige Gericht muss nach Aussetzung abwarten bis im Musterverfahren eine rechtskräftige Entscheidung ergeht. Frühestens nach Beendigung des Kapitalanlegermusterverfahrens könnte das Klageverfahren wiederaufgenommen werden.

Wenn das Musterverfahren wider Erwarten negativ beendet werden würde, könnte die Klage nach Wiederaufnahme des Verfahrens noch in der ersten Instanz und auch noch vor Durchführung der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden, da das Gericht nach Wiederaufnahme erst einen Termin anberaumen müsste, der seinerseits mit weiteren Kosten verbunden wäre.

Sollte sich der negative Ausgang des KapMuG-Verfahrens bereits im Verlauf des Verfahrens deutlich abzeichnen, könnte die Ursprungs-Klage sogar noch vor Erlass des (negativen) Musterentscheids zurückgenommen werden. In diesem Fall würden sich die Kosten weiter reduzieren. Hinzukämen möglicherweise noch anteilige Kosten des Musterverfahrens, welche allerdings in Anbetracht der Vielzahl der Musterkläger bei Wirecard verhältnismäßig gering sein dürften.

 

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